Wie die in unbedarft operierenden Satelliten-Start-ups entwickelte Lösungen oder Produkte rückintegriert werden in jene Strukturen, die sie zu ihrer Entstehung verlassen mussten – das erläutert ein folgender Beitrag. Er wird sich auch damit auseinandersetzten, welche technischen Voraussetzungen geschaffen werden müssen, damit agile Methoden nicht an klassischen IT-Architektur- und -Infrastrukturklippen zerschellen.
Donald Rumsfeld, Ex-US Verteidigungsminister hat als einer der unterschätzten Philosophen der Neuzeit „das Unbekannte“ einmal auf den Punkt gebracht: auf einer legendären Pressekonferenz erklärte er, es gäbe „das bekannte Bekannte, aber auch das unbekannte Unbekannte“. Der kurze Schreckensmoment des sonst unerschütterlichen Pressechors ist sehenswert. Es gibt tatsächlich „unbekannte Unbekannte“ – Umstände von deren Existenz man nichts wissen kann, doch ahnt, dass es sie irgendwo im Dunklen geben könnte. Könnte, müsste, sollte: der Konjunktiv macht die Ungewissheit. Doch ist das Rumsfeld-Zitat ist bei aller zeithistorischen Fragwürdigkeit mehr: eine Parabel für das Neue, das schummrige Unbekannte, das eher beunruhigt und alarmiert als zu signalisieren: „alles im Griff“.
Es gibt Umstände, die wir kennen und beherrschen (known knowns). Rechts oben bekannte Bedingungen, die wir noch nicht kontrollieren (unknown knowns), links unten bekannte Unbekannte, die wir noch nicht verstanden haben (known unknowns) und im Quadranten rechts unten die diffusen „unknown unknowns“: irgendetwas, von dem wir noch nichts wissen, das es aber geben könnte … und über das wir unbekannterweise auch keine Kontrolle haben: die Monster unter dem Bett. Irgendwo dort im Finsteren verstecken sich auch unerkannte Chancen, Innovationspotentiale und Wettbewerbsvorteile.
Änderung unter Druck
Dass sich etwas ändern muss, aufgrund alter, neuer und unerwarteter Konkurrenz im Nacken, liegt auf der Hand. Nur was ändern? Und wie? Wir haben lieber selbst die Kontrolle als kontrolliert zu werden, sind lieber voraus als getrieben zu werden. Konzerne gründen Innovationszentren, rufen eine Start-up-Kultur aus.
Irgendwo hat ein Kollege gelesen, offene Zusammenarbeit im Unternehmen sei zu fördern, Crowd-Sourcing wäre doch was und weg vom Wasserfall und hin zu agilen Methoden müsste man auch – das machen doch jetzt alle? Sieht man nicht schon Dieter Zetsche mit Kapuzenpulli und Turnschuhen auf der Bühne
und lassen sich Vorstände seit neuestem nicht sogar Duzen um ein stärkeres „Wir-Gefühl“ zu suggerieren?
Begriffs- und Methodenwirrwar
Wer ein wenig zu bohren beginnt, mit ambitionierten Kollegen und der Unternehmensentwicklung spricht, stößt auf ein zunächst verwirrendes Begriffsdickicht und viel gewöhnungsbedürftigem Hipster-Speak.
Alles neu da draußen im „Neuland“: Design-Thinking, Lean- Startup, Kanban und Scrum, das alles soll Prozesse beschleunigen und effizienter machen, Innovationen befördern und den Kundennutzen heben. Aber wo fängt man an?
Gemeinsam ist diesen, nicht wirklich brandneuen Methoden das bewusste Akzeptieren von Unsicherheit und nicht vollständig geklärten Randbedingungen. Man startet, wo man steht. Wo in klassischen – und nach wie vor weit verbreiteten – Wasserfallmethoden monatelang Spezifikationen detailliert und dann
in weiteren Monaten buchstabentreu umgesetzt wurden, setzen agile Methoden auf das „Umarmen von Änderungen“ auch in letzter Minute. Was dem klassischen Projektmanager das maximale Gräuel ist, soll in Neuland der Heilsbringer sein?
Ein Beispiel: Die aus der japanischen Automobilproduktion der achtziger Jahre stammende und auf andere Umgebungen am leichtesten übertragbare Methode Kanban bietet eine Überholspur für Unerwartetes und besonders Wichtiges. Also Umstände, die über aller Planung stehen und unbedingt sofort berücksichtigt werden müssen. Das kommt autokratischen Strukturen sehr entgegen und ist quasi eine Ausnahme von der Weisheit der Vielen, der Gruppenentscheidung nach bekannter Informationslage.
Es lohnt also bei aller Andersartigkeit, diese neue Methoden der Zusammenarbeit vorurteilsfrei und aufmerksam zu betrachten, es ist an allen etwas dran, das helfen kann.
Neue Strukturen in der Zusammenarbeit
Gemeinsam ist den genannten Methoden das Grundverständnis, dass neue Formen der internen Zusammenarbeit nur in neuen und durchlässigen Unternehmensstrukturen wirksam werden können. Neues kommt leichter in die Welt, wenn Raum ist für interdisziplinäre, fachbereichsübergreifende Zusammenarbeit. Wo in konventionellen Strukturen feste Abteilungen und Informationssilos den Takt vorgaben, sollen in agilisierten und hierarchisch abgeflachten Unternehmen cross-funktionale Teams weitreichende Entscheidungen treffen.
Agil ist nicht schnell und schlampig
Mit Scrum oder Kanban geschieht das nach klaren Regeln und Abläufen. Bei Scrum, der bekanntesten agilen Methode, gibt es einen Plan (das Backlog), ein Ziel (das nächste Produktinkrement), drei Rollen (Team, Scrum-Master, Product-Owner) und wenige, klare Regeln.
Der Produktionsprozess wird in kleinere, sich zyklisch wiederholende Elemente strukturiert, sogenannte „Sprints“. Das Projekt-Team handelt weitgehend eigenverantwortlich und kann in meist zweiwöchentlichen Abfolgen die den Kundennutzen steigernden Änderungen umpriorisieren und schnell umsetzen.
Anders als bei konventionellen, linear-hierarchischen Modellen wird kein Masterplan fixiert und abgearbeitet. Vielmehr werden kleinere, unmittelbar prüfbare Teillieferungen erarbeitet und schrittweise verbessert, um das MVP, das minimal akzeptable Produkt, zu erreichen. Das ist dann jene Ausprägung und
Evolutionsstufe eines Services, Produktes, einer Lösung, das gerade so viel zur nächst besseren Lösung differenziert, dass ein idealtypischer Kunde sagen würde „ja, das ist prima, das will ich (lieber als das andere)“. Statt deutscher Ingenieursperfektion also der smarte, flinke Mut zur Lücke mit dem Quäntchen Wow-Effekt, um innovativer, schneller am Markt und näher an Bedürfnissen zu operieren, als die Konkurrenz.
Dichte Kooperation im Unternehmen
Idealerweise sind in agilen Vorgehensmodellen Endkunden und interne Stakeholder unmittelbar beteiligt und jederzeit zu Auskunft und Klärung der Rumsfeldschen „unknown unknowns“ in der Lage.
Statt Umlaufverfahren und trägen Abstimmungen in Gremien und Abteilungssitzungen ist im Falle „Scrum“ der Product-Owner der Entscheider, der all diese Bedürfnisse antizipiert und sich notfalls Hilfe holt. Dieses Arbeiten unter stetiger, sich über die Zeit verringernden Unschärfe ist Teil der Methode und keine
Einschränkung: wenn neue Informationen, Bedürfnisse und Randbedingungen auftauchen, werden sie in der nächsten Iteration berücksichtigt und sind nach wenigen Wochen unter realistischen Bedingungen prüfbar. Kein monatelanges Warten mehr, Innovation im Wochentakt.
Der meist unerwartete Nebeneffekt einer Agilisierung ist unter anderem, dass Informations- und Kompetenzsilos aufgedeckt und in Frage gestellt werden. Jene hierarchischen Reservate, in denen Entwicklung, Produktion, Marketing und Vertrieb gerne ein Eigenleben führten. Doch neue, Produkt mit Dienstleistung
verzahnende Geschäftsmodelle können nur interdisziplinär und hierarchiearm entwickelt werden. Silos und Information-Hiding soll es nicht mehr geben.
Ein „Oben“ und „Unten“ steht ebenso im Feuer, wenn anpassende, lernende Unternehmenskulturen entstehen sollen. Das ist ein harter Brocken für klassisch sozialisierte Manager, Abteilungschefs, Projektfürsten und -manager: Mit der Verflachung und Demokratisierung von Strukturen fallen auch Privilegien und
kuschlige Machtkonstrukte störend auf.
Agil wirkt
In seiner Studie „Agile Innovation“ erläutern „Bain & Company“ wie sich in mehr als 10.000 analysierten agilen Projekten Entwicklungszeiten nahezu halbierten und sich die Team-Produktivität annähernd verdoppelte. Die Erfolgswahrscheinlichkeit beim Einsatz agiler Methoden habe sich demnach generell mehr als
verdreifacht. Aus dieser, wie auch anderen Längsschnittanalysen werden Muster ersichtlich: Bei wiederkehrenden Routineaufgaben beschleunigen agile Methoden nichts, in Produktentwicklung, Marketing und in der strategischen Planung – also in Feldern, in denen Unsicherheit die Regel ist – sind agile Methoden
überaus wirksam.
Und so kann die Umstellung von konventionellen zu modernen Methoden gelingen: Im Kleinen und mit Pilotprojekten beginnen, in der Folge organisch wachsen lassen und von der „reinen Lehre“ erst dann flächendeckend abweichen, wenn alle Mitarbeiter diese Methoden beherrschen. Durch das Abflachen von Hierarchien und das Vorleben eines Change-Spirit durch Management und leitende Mitarbeiter geschieht eine nachhaltige Änderung und übergreifende Zusammenarbeit.
Wie anstellen? Wie das Neue in die Welt lassen? Allianz wie Commerzbank beispielsweise erforschen das für sie neue Land, indem sie Garagensimulationen in Bürocontainern einrichten um dort unbelastet vom Muff des Gewohnten, Geschäftsprozesse zu digitalisieren.
Neu und frisch soll über Kundennutzen und Produkte aber nicht nur nachgedacht werden, nein viel mehr: Projekte sollen als Prototypen auch gleich gebaut und erprobt werden. Weil es gilt, im Neuland die „Menschen mitzunehmen“ werden da Brücken gebaut. Mit Rückfahrtticket.
Bei der Commerzbank etwa werden Mitarbeiter für einen begrenzten Zeitraum aus gewohnten Hierarchien herausgelöst und haben ein Jahr Zeit, projektorientiert Ideen für das Bankgeschäft der Zukunft zu entwickeln. Danach wartet der gewohnte Platz auf der alten Position wieder. Ob der dann auf Offenheit und Kollaboration gebürstete Kollege resozialisierbar ist? Ob das Projekt an realen Bankkunden qualitätsgesichert wird? Noch unklar. Aber vielversprechend. Hautsache: den Monstern unter dem Konzernbett näher rücken.
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